Von Thommi Baake

Max, eine Thermoskanne und Elvis Presley

 

Max war sechs Jahre alt und er schlief schlecht. Er erzählte es seiner Mutter und die gab ihm ein Mittel, das sie schon von ihrer Mutter und die wieder von ihrer Mutter bekommen hatte. Es war ein etwas merkwürdiges Rezept, das selbst zubereitet werden musste.

Die Mutter ging mit Max dafür in den Wald und sammelte junge Farntriebe, frisch gelegte Hasenköttel, ungeöffnetes Springkraut und breitgetretene Moose und Eicheln. Das Ganze wurde gekocht und mit Pfannkuchenteig vermischt, wobei sich natürlich die Frage stellte, ob der Pfannkuchenteig wirklich sein musste, oder ob er nur der Geschmacksbildung diente. Max aß die eigenwilligen „Waldpfannkuchen“ und legte sich dann schlafen. Am Morgen wachte er erst ganz langsam auf und spürte einen schlechten Geschmack im Mund. Seine Haut spannte und seine Glieder schmerzten. Er stand mühsam auf, schaute an sich herunter und schrie auf. Es klang allerdings eher wie ein lautes Gurgeln: er war über nacht alt geworden, ein Greis. Seine Mutter kam ins Zimmer gestürzt, sah ihn und fiel erst einmal in Ohnmacht. Max dachte nur, das er eigentlich in Ohnmacht fallen müsse und nicht seine Mutter. Er sah nun ca. 40 Jahre älter aus als sie. Seine Mutter, die gerade aus ihrer Ohnmacht erwachte stammelte: „Friedrich“, und meinte ihren verstorbenen Vater. „Mama, ich bin’s, Max, dein Sohn“. „Oh!“, war das einzige was seine Mutter herausbekam. Aber sie dachte noch, das ihr Mittel gegen Schlaflosigkeit wohl fehlge-schlagen sei. „Mama, tu was“, ließ sich Max hören und seine Mutter dachte daran ihm ihre Anti-Aging Creme zu überlassen, als beide plötzlich ein Geräusch im Flur hörten.

Das konnte nur Max´ Oma sein. „Wie sollen wir ihr das bloß erklären?“, hörte Max seine Mutter sagen. Die Tür ging auf und eine alte Dame betrat sein Kinderzimmer. „Guten Morgen Max“, sagte sie ganz ruhig, „hast du gut geschlafen?“ Max und seine Mutter waren sprachlos. „Na ja“, sagte die Oma erklärend „das mit dem Schlafmittel ist mir vor etlichen Jahren auch passiert, ich hatte damals zu wenig Hasenköttel benutzt.“ „Und Viren beklommen wie denn Gesungen wiedel Dung?“, hörte Max seine Mutter sagen und zweifelte daran, das sie das gesagt hatte. Er hörte verdammt schlecht und seine Oma, die noch in der Tür stand, sah er nur verschwommen. „Ja, also“, begann die Oma zu erzählen, „das ist etwas schwieriger zu lösen. Wir müssen in einer Vollmondnacht 163 Senioren über 80 Jahre alt auf einem Stoppelfeld in Südfinnland versammeln und....“. Dann verstand er nur noch, dass das damals allerdings nicht so richtig funktioniert hatte.

„Das sind ja schöne Aussichten“, bemerkte er und seine Oma und seine Mutter schauten ihn betroffen an.

Während des Vormittages bekam er die Wucht seines Alters zu spüren: das Wasserlassen tat ihm weh, ebenso wie jedes Aufstehen und Hinsetzen und auch das Treppensteigen war keine Freude. Er wünschte sich heiß und innig, das er wieder jung wäre oder zumindest einen Rollstuhl. Mittags wurden die Koffer gepackt, die Oma hatte einen Flug nach Helsinki gebucht. Die Oma packte Stullen, ein paar Äpfel und Süßigkeiten für Max ein. Der verneinte aber und wunderte sich über sich selbst, über sich, den größten Gummibärchenvernichter Mitteleuropas. Die Oma hatte ihren Frauen Tee gekocht und wollte ihn gerade in ihre Thermoskanne füllen, als Max Mutter ihr davon abriet. „Lass die Kanne hier, die ist doch viel zu schwer und unhandlich“. Das bekam die Kanne mit und ärgerte sich natürlich. Sie hatte gehört, das es nach Finnland ging. Dort war sie vor vielen, vielen Jahren hergestellt worden und wollte dort, auch wenn sie die Oma sehr mochte, ihren Lebensabend verbringen. Also protestierte sie lautstark: „Ich möchte aber mit nach Finnland!“ Alle drei im Zimmer befindlichen Mitglieder der Familie hielten den Atem an, schauten sich gegenseitig an und fragten, wie aus einem Munde: “Was hast du gesagt?“ „Ich war’s“, sagte die Thermoskanne und erklärte den anderen worum es ging.

„Warum hast du nie etwas gesagt?“, fragte Oma die Kanne und musste sich erst mal hinsetzen. „Warum sollte ich, mir ging es doch gut bei dir? Nur möchte ich jetzt einfach mit nach Finnland!“ „Gut“, sagten alle und so fuhren sie zwei Stunden später mit dem Taxi zum Flughafen. Dort sah Max Kinder herumspringen und ihn befiel eine Sehnsucht nach seinem wahren Alter.

Man hatte ihm eingebläut, sich als „alter Mann“ unauffällig zu benehmen, aber es pas-sierten dann doch zwei Dinge, die ihn das vergessen ließen. Ein kleines Kind fragte ihn aus heiterem Himmel, was für einen Beruf er habe. Da entfuhr es ihm: „Mann, seh ich so aus, als hätte ich einen Beruf? Ich gehe in die erste Klasse, booh“. Das Kind lief heulend zu seiner Mama. Zum Glück wurde Max von seiner Oma schnell weggezogen und es ging durch die Kontrolle. Dort wurde er gefragt, ob er einen Herzschrittmacher hätte, worauf Max antwortete: „Woher soll ich das wissen, ich bin noch nicht lange so alt.“

In Helsinki gelandet liehen sich Max, seine Mutter, die Oma mit samt ihrer Thermoskanne ein Mietauto und fuhren aus der Hauptstadt Finnlands in Richtung Turku, welches sich im Südwesten Finnlands befand. Auf der Mitte des Weges fanden sie ein ansprechendes Stoppelfeld hinter einer Waldlichtung gelegen.

Sie bauten ihr Zelt am Waldrand auf und legten sich schlafen. Max, der nicht gleich ein-schlafen konnte, hörte der Thermoskanne gespannt zu: „Weißt du eigentlich, was für ein Gefühl das ist wenn heißer Tee in einen gefüllt wird und weißt du auch...?“ Doch mitten in der Erzählung der Kanne schlief er doch ein und träumte wirres Zeug von einem Altenheim in der Nähe und von Senioren, die eine Bank ausraubten. Im Tresor befand sich jedoch kein Geld, sondern eine goldene Thermoskanne mit einer Zauberflüssigkeit, der alte Menschen in junge verwandelte. Einer der Senioren schaute ihm direkt ins Gesicht und sagte „Du brauchst keine Angst zu haben, ich helfe dir“. Er erwachte und alle Glieder taten ihm weh.

Die Thermoskanne wünschte ihm einen Guten Morgen und erzählte, das sie aus dem Satz von Rooibush Vanille Tee lesen könnte. Die Mutter fuhr zum nächsten Dorfsupermarkt, kaufte den Tee und auch ein paar leckere Sachen fürs Frühstück.

Nach dem Essen las die Thermoskanne aus dem Satz des Rooibush Tees: „Hier steht, das ihr ein Altenheim in der Nähe aufsuchen sollt, das sich in diesem Waldstück hinter uns befindet. In diesem Heim wohnen genau 162 Senioren, die über 80 Jahre alt sind“. Bevor Max protestieren konnte, das sie 163 brauchten zwinkerte ihm seine 87 Jahre alte Oma zu. „Die Senioren haben einen großen Traum“, so fuhr die Kanne fort, „sie wollen sich alle zusammen noch einmal treffen und zu Elvis Presleys Musik tanzen. Das wird ihnen jedoch im Heim verboten. Der Leiter des Heims ist ein richtig dummer Sack“.

Bevor Max die Kanne fragen konnte, woher sie das Wort „Dummer Sack“ kannte, erzählte die Kanne weiter: „Sie alle waren Mitglied im einzigen Presley Fanclub Finnlands, ihr würdet ihnen einen großen Gefallen bereiten. Dafür würden sie alles tun“. Um die Oma war es still geworden. Sie bewunderte ihre Thermoskanne und wunderte sich a. darüber, da sie jetzt erst nach soviel Jahren Kontakt zu ihr hatte und b. ob es Zufall sei, das sie seit 40 Jahren eine Elvis Kassette in ihrer Handtasche mit sich führte. Aber selbst das schien die Kanne zu wissen. Die vier arbeiteten einen Plan aus und noch vor Mitternacht machten sie sich zum Seniorenheim im Wald auf.

 

Kurze Pause

 

Hier hat der geneigte Leser/die Leserin die Möglichkeit, die dramaturgische pause zu nutzen, um Erfrischungen aus der Küche zu holen oder die Toilette aufzusuchen.

 

Fortsetzung der Geschichte

 

Das ganze Heim schien zu schlafen, nur die Rezeption war besetzt. Die vier schlichen sich, besser gesagt die Mutter schlich, denn die Thermoskanne war ja nur eine Thermoskanne und die beiden anderen waren einfach zu alt zum Schleichen. Also, die drei Menschen, mit der Kanne in der Hand, bewegten sich fast lautlos zu dem spärlich beleuchteten Gebäude. „Wir müssen auf die Rückseite des Gebäudes“, sagte die Kanne, „dort befindet sich das Zimmer von Seppo Hevonnen, Olympia Teilnehmer im Hoch-sprung 1936 in Berlin, der spricht ein wenig deutsch“. Und wieder staunten sie über diesen wundervollen Heißgetränkewarmhalter und folgten ihren Anweisungen. Sie stoppten vor einem Fenster und Max klopfte vorsichtig an die Scheibe. Nach ca. zwei Minuten öffnete ein verschlafener älterer Ex-Hochspringer und starrte die vier im Halbdunkeln Stehenden mit großen Augen an. Max Oma kannte eins der berühmtesten finnischen Volkslieder, zumindest die ersten beiden Strophen, und sang leise, aber mit fester Stimme „Taivas on sininen“. Seppo hatte schon viel in seinem Erdendasein erlebt, aber eine alte Deutsche, das erkannte er an ihrem Akzent, eine Thermoskanne, ein alter Mann und eine mittelalte Frau, die sich nachts vor seinem Fenster herum trieben, hatte er noch nicht erlebt.

„Was kann ich für sie tun, schöne Frau?“, fragte er Max Oma auf deutsch mit finnischem Akzent, die sich sichtlich geschmeichelt fühlte. Zwischen den beiden war eine kleine Flamme der Liebe entfacht und so musste Max Mutter, weil die Oma sprachlos geworden war, ihm alles erklären. Wenn er nicht verstand, ergänzte die Thermoskanne, die in der Nähe von Turku in einer Fabrik vor fast vierzig Jahren hergestellt worden war und somit zumindest rudimentär finnisch sprach. Seppo hatte sich das alles ruhig angehört und danach sofort gehandelt. Seine Freunde im Heim und er hatten ein Geheimsignal. Matti Rananjärvi, ein ehemaliger Elektriker, hatte in jedes Zimmer eine Leitung und einen roten Knopf, samt kleinem Lämpchen mit leisem Summton, für Notfälle, gelegt. Diesen Knopf betätigte er jetzt. Nach einer halben Stunde hatten sich alle Insassen mit unseren Freunden im Gemeinschaftsraum im Keller versammelt.

Nach einer weiteren halben Stunde mit vielen Fragen, erstaunten Blicken und später auch leuchtenden Augen brachen die 162 Senioren, samt unseren Freunden und einem alten Kassettenrecorder mit eingebauten Lautsprechern, zum Stoppelfeld auf. Sie wurden mit einer wundervoll romantischen Vollmondnacht belohnt und alle waren ganz aufge-regt. In der Mitte des Stoppelfeldes wurde der Recorder aufgestellt und Elvis begann zu singen. Die Senioren hatten sich fein gemacht und trugen ihre schönsten Kleider und Anzüge.

Es war ein romantisches, verträumtes Bild, aber es hatte auch etwas Wildes, als die Alten sich zu den Klängen von Jailhouse Rock bewegten. So tanzten sie fast eine Stunde, als sich Max schon langsam fragte, wie er denn nun wieder zum Sechsjährigen werden würde. Die Oma, die gerade eng umschlungen mit Seppo tanzte, merkte das und flüsterte ihm ein „hab noch ein bisschen Geduld“ zu. Doch plötzlich hörte er ein lautes Summen und er schaute nach oben: über ihm kreisten riesige Bienen, so groß wie Hub-schrauber, ungefähr ein Dutzend an der Zahl. Noch bevor er irgendetwas rufen konnte sah er, wie die Bienen Eimer, die sie mit sich transportierten, über den Köpfen der Senio-ren auskippten. Max sah, wie sich flüssiger Honig aus den Eimern löste und in dicken Tropfen auf sie fiel. Zuerst schienen alle erschreckt, doch dann lachten sie und nur Max fand das alles sehr merkwürdig. Doch wieder war es seine Oma, die ihm zu zwinkerte und ihn beruhigte.

Jetzt kam Schwung in die ganze Sache und die Ereignisse überschlugen sich. Während vom Wald her das Altenheimpersonal auf die Gruppe zu lief erschien über Max und seinen Freunden eine gigantische, fliegende Thermoskanne, die ihnen etwas zu rief: „Öffnet eure Münder und wartet ab!“ Alle taten das sofort und in dem Moment drehte sich die Kanne um und aus der Öffnung kam etwas Dickflüssiges auf die Gruppe zu. Max dachte „na super, erst Honig und jetzt“, er stockte und erkannte am Geschmack, das es sich um dieselbe Zusammensetzung handelte, die er Zuhause in Form von Pfannkuchen zu sich genommen hatte und durch sie alt geworden war. „Der Pfannkuchenteig war also der Fehler gewesen“, dachte er noch als er bemerkte, das sich die Alten veränderten. Auch er, das sah er jetzt, wurde älter!? Das darf doch nicht wahr sein, dacht er entsetzt. Da ging plötzlich die Sonne auf und die ersten Strahlen trafen auf das Stoppelfeld und jeder, der an diesem Morgen in der Nähe dieses Ortes gewesen wäre hätte ein Wunder mit erleben können: alle Senioren, samt Max, seiner Mutter, der Oma, waren zu Kindern geworden. Was für ein Anblick? Eben noch Senioren im Alter von über 80 Jahren tobten sie jetzt ausgelassen miteinander, wälzten sich auf dem Feld herum und waren glücklich.

Das Pflegepersonal traute seinen Augen nicht und der Leiter des Heimes griff gerade zum Telefon, um die Polizei zu rufen, als sich die Riesen Thermoskanne auf sie absenkte und sie einfach, ohne großes Aufsehen, in sich hineinsog. Die Kinder jubelten und die über-große Thermoskanne schwebte gen Himmel, für immer und ewig, davon.

 

Max konnte sein Glück kaum fassen, er war wieder sechs Jahre alt. Er rannte zu seiner Mutter und zu seiner Oma, die er zuerst nicht erkannt hatte, da sie ja nun beide Kinder waren. Die drei umarmten sich und auch Seppo und Omas Thermoskanne kamen dazu. Sie beschlossen schnell, das sie alle gemeinsam weiter in dem Seniorenheim im Wald leben wollten. So wurde in den nächsten Wochen und Monaten gehämmert, umgebaut und alles so hergerichtet, das sich 165 Kinder und eine Thermoskanne wohlfühlen konnten. Sie verkauften alle Rollstühle, Krücken und Rollatoren und errichteten vom Verkaufserlös im Garten des Heimes ein Denkmal für alle Thermoskannen dieser Welt.

Max wurde von Seppo und den anderen „alten“ Kindern unterrichtet und als er 21 Jahre alt geworden war, wurde er Olympiasieger im Hochsprung. Und in jedem Jahr am gleichen Tag trafen sich alle 165 plus Kanne auf dem Stoppelfeld und sie tanzten eine ganze Vollmondnacht zu Elvis Presley-Musik.